Mittwoch, November 04, 2009

Stimmen

Ich hätte es mir eigentlich denken können. Kaum ist man mal ein, zwei Tage in der freien Natur unterwegs, machen sich die anderen ohne einen aus dem Staub. Dabei war es in Luzijas enger Hütte wirklich nicht mehr auszuhalten.
Ob sie dem Zodar gefolgt sind? Das lärmende Hämmern aus der Schmiede ist jedenfalls verstummt. Doch in welche Richtung?

Während ich noch so am Grübeln bin, höre ich plötzlich eine altbekannte Stimme in meinem Kopf: es ist Ig'nea! „Wir sind Zordai gefolgt, über Yggdrasil und Ribcage nach Avernus, die erste Ebene Baators. Wir warten auf einer Insel im Styx auf dich.“

Ich überlege gerade, ob es Jarvis gelingen könnte, mich ohne großen Federverlust nach Ribcage zu schmuggeln, da macht es neben mir plötzlich dumpf „Plopp“ und Luzija wirbelt tanzend und kreischend einmal um mich herum, packt mich unsanft am Flügel und mit einem weiteren, sehr lauten Plopp, verschwindet Arkadien vor meinen Augen...


Fort sind die gepflegten Gärten und der blaue Himmel, ersetzt durch ein blutrotes Firmament, welches ein gewaltiges, verbranntes Ödland überspannt. Flammenkugeln ziehen in glühenden Bahnen über uns und tauchen alles in ein unheimliches, flackerndes Licht.

„Da lang,“ meint Luzija fröhlich und deutet auf das naheliegende Ufer eines träge dahinfließenden Stroms, wo ein Fährmann reglos in seinem Nachen wartet. „Ist das etwa...“, beginne ich zögerlich, doch Luzija ist ganz unbekümmert. „Jaja, das ist so ein Marraenoloth, der bringt die Toten rüber. Er kann uns gegen Bares aber auch zu der Insel im Fluß bringen. Die anderen sind schon dort. Toller Ort übrigens, der Zodar hat einem Celest, der da am Baum hängt, das Schwert in den Bauch gesteckt.“
Ich werfe ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Was denn?“, meint sie gespielt gekränkt. „Der macht lauter so komische Sachen mit seinem Schmiedestück. Hat ein Stück von Yggdrasils Rinde um das Heft gewickelt und all sowas. Warum es also nicht einem Engel in den... oh, da sind wir schon.“

Und so ist es, der wortkarge Fährmann hat uns zu einem völlig von dichten Nebelschwaden verhangenen Fleck mitten im Styx gerudert. Vorsichtig, ohne versehentlich in die Wasser des Vergessens zu tapsen, springen wir an Land. Man sieht die Hand vor Augen nicht.
Also schließe ich die Augen, konzentriere mich auf meine Umgebung und erkunde sie magisch, wo kein Nebel die Sicht versperrt. Ein großer, auffälliger Baum zieht meine Neugier auf sich, und so stolpern wir in diese Richtung.

Dort endlich treffen wir auf die anderen. Ig'nea ist gerade in Trance, also klettern unser naturverbundener Elf Elidan und ich den Baum hinauf, wo Goin den Celest erspürt haben will.
Seit wann spürt Goin Lebewesen und ihre Gedanken? Färben Ig'neas Psikräfte etwa ab? Er behauptet jedenfalls, der Celest habe sich vor ewigen Zeiten in einen astralen Riss geworfen, um einen jungen Echsenmann zu retten und sei dabei gestorben und auch wieder nicht gestorben. Ich versuche gar nicht erst, dieses Paradoxon zu verstehen.

Ig'nea bestätigte jedoch, dass der Celest seitdem da oben hängt und immer wieder von Zordai gemartet wurde, acht Mal insgesamt, immer mit verschiedenen Waffen. Beim neunten Mal sah sie ihn zappelnd von seinen Fesseln freikommen, voller Glück, doch sofort kamen Bekuttete und hängten ihn wieder in die Krone, wo ihn weitere Marter erwartete.


Tatsächlich finden Elidan und ich den Ärmsten hoch oben, halb angekettet in den Ästen! Gerade will ich ihm zu Hilfe kommen, da flüstert eine leise Stimme, ich solle einhalten und ihn wieder ordentlich an den Baum fesseln. Erst bin ich ein wenig überrascht, aber wenn das eben sein Wille ist - also binde ich ihn wieder fest.

Augenblicklich hören wir alle eine weibliche Stimme, die uns grüßt. Sie scheint aus dem Nichts zu kommen! Sie behauptet, der Aufgehängte sei verrückt, er würde ihnen von „anderen Sinnen“ erzählen, die es aber gar nicht gibt: vom Hören, Sehen und solcherlei Irrglauben. Deshalb hätten sie ihn zum Schweigen verbannt.

Wäre der vermaledeite Nebel nicht so dicht, dass ich Elidan direkt neben mir nur erahnen kann, wir hätten uns sicher mit den verständnislosesten Blicken bedacht, derer wir fähig sind. Was sind das denn für verrückte Wesen?

Plötzlich empört sich Luzi lautstark über jemanden, der ihr auf den Fuß getreten ist. Sie verpaßt dem Übeltäter eine schallende Ohrfeige, und sogleich klagt eine andere Stimme über „Stimmweh“. Nanu?
Geistesgegenwärtig verwandelt sich Ig'nea in einen mächtig großen Grey Render und stapft über die kleine Insel - dabei trifft sie, wortwörtlich, immer wieder auf die bekutteten Gestalten aus ihrer Vision! SIE sind es also, die hier mit uns sprechen. Doch warum glauben sie, sie seien bloß Stimmen?
Hat der Nebel sie so blind gemacht, dass sie im Laufe der Zeit alle anderen Sinne schlicht vergessen haben? Oder sind sie einmal zu oft in den Styx gefallen?

Musik reißt mich aus meinen Gedanken. Woher kenne ich nur ... nein! Es ist eine Melodie wie Sams Gesang aus Ipkunis! Die Stimmen haben plötzlich zu singen begonnen, irgenwer muß sie wohl dazu animiert haben. Warum ausgerechnet dieses Lied, bei allen Ebenen.
Doch noch bevor wir eine Wirkung verspüren, gebietet Goin den Stimmen einhalt - nicht ohne uns stolz zu verkünden, dass er sich die Weise eingeprägt hat. Er nennt es das „Lied vom Paradoxon“. Kein Barde der etwas auf sich hält sollte meiner Meinung nach solche Musik lernen, aber so ist Goin eben.
Manchmal macht er mir fast Angst. Er entwickelt eigenartige Fähigkeiten, und seine Taten sind - nun, seit er das Buch des Wahnsinns gelesen hat ist er einfach nicht mehr der Alte.

Als Goin aus dem aufgehängten Celest keine ihm genehmen Informationen herausschmeicheln kann, greift er auf mentale Folter zurück. Wie er das tut, kann ich in dem Nebel nicht erkennen, aber deutlich hören. Der Ärmste schreit und winselt, und ich bin drauf und dran den Baum hinab zu klettern um Goin gehörig an seinem geliebten Goldbart zu ziehen, da lenkt der Gemarterte ein.

Seine Geschichte ist höchst aufschlußreich:

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Auch er war nur eine Stimme, so wie die anderen. Doch durch Meditation erkannte er, wie er sich in andere Sinnesebenen erweitern konnte. Er wollte die anderen bekehren, doch sie verstanden ihn nicht, erklärten ihn für verrückt und hängten ihn hier oben auf.
Über den Zodar und sein Folterritual weiß er nur zu sagen, dass es wohl eine Art Test sei und der Unzerstörbarkeit der Waffe dient. Ob das mit dem Paradoxon des Sterbens und doch nicht Sterbens zu tun hat? Dorn hat dieses Ritual jedenfalls auch erhalten.

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Als er meint, es sei recht spaßig die Stimmen aufzufordern dahin zu gehen, wo die Stimmen leiser werden, meine ich das diabolische Glitzern in Goins Augen trotz des Nebels förmlich sehen zu können und wechsle schnell das Thema. Entgegen der Proteste der anderen Stimmen hole ich den Celesten vom Baum herunter und wir öffnen ihm buchstäblich die Augen für eine Welt jenseits der reinen Klangwelt: er ist sichtlich bewegt von diesem Erlebnis.

Wie beeindruckend muß es sein, einen neuen Sinn zum ersten Mal bewußt zu erleben! Ein wenig, nein sogar sehr, beneide ich ihn um diese Erfahrung.

Am liebsten würde er natürlich einen erneuten Versuch starten, die anderen Stimmen zu erleuchten, doch davon können wir ihn abbringen. Sie würden ihn ja doch nur wieder in die Baumkrone nageln. Luzi schlägt spontan vor, ihn mit von der Insel zu nehmen, um ihm die Welt zu zeigen. Welch hervorragende Idee!
Doch der Fährmann bleibt eisern: er darf nicht mit an Bord. Kein Bitten, kein Bestechen läßt ihn seine Meinung ändern. Wenn er ihn von der Insel fortbringt, dann nur auf die Totenseite.

Schweren Herzens lasse ich also zu, dass Goin den Celesten so lange beschwatzt, bis dieser die Freiheit des Todes der Gefangenschaft seiner Sinne vorzieht und dem Marraenoloth ans jenseitige Ufer folgt.
Wenigstens ist er nun, da er den natürlichen Kreislauf des Lebens vollendet hat, frei vom ewigen Martyrium; Brenell wird sich eine neue Möglichkeit suchen müssen, um seine Waffen unzerstörbar zu machen.


Andererseits, wenn unser Vorhaben gelingt - braucht er das nie wieder.