Hellblaue Augen
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Man’s End.
Das Paradies der wohlverdienten alten Recken, Erholungsort der Gepeinigten und Müden. Und wie müde wir sind. Die beschwerliche Reise nach Kront liegt hinter uns und hat uns neue Rätsel aufgetragen, an denen wir zu nagen haben.
Beim Frühstück im "Lachenden Halbling" beraten wir, was zu tun ist. Ig’nea hat sich Gedanken über das Ritual gemacht, sie möchte es nun doch wagen. Die Vorteile überwiegen eben deutlich die Nachteile, meint sie; Luzija hat sicher alle Register gezogen. Wir reisen also nach Ipkunis, Furgas über das öffentliche Portal, wir anderen mit Elidans Zauber. So langsam finde ich beinahe schon Gefallen an diesem Ziehen im Körper, wenn wir über die Astralebene geschleudert werden von hier nach da. Es ist ein Vorbote, ein gespanntes Kribbeln überall in Erwartung des Neuen und Unbekannten, das vor mir liegen wird.
Es dauert zwei Tage, bis wir wegen der Abweichung nach Ipkunis gelangen, wo Furgas bereits mit einem neuen Schild, den er in Sigil erstanden hat, auf uns wartet. Ig’nea verschwindet in Luzijas Folterkammer und wird acht Tage lang nicht wieder herauskommen.
Wir anderen nutzen die Zeit, um in unserer Stadt nach dem Rechten zu schauen und uns schließlich im Weißen Turm zusammenzusetzen.
Detritor hat sich wohnlich eingerichtet, für seine Begriffe. Er sieht schlecht aus, bleich und verkatert, das Zimmer ist unordentlich und ranzig. Dieser alte Schlucker, es wird Zeit dass er wieder auf Reisen geht, Sesshaftigkeit tut ihm nicht gut. Den Rausch kann ich schnell vertreiben, doch sein gräßlicher Totenkopfschmuck schmerzt dabei. Richtig, darüber wollten wir ja auch noch reden.
Doch Detritor ziert sich. Den Großteil unserer Zeit in Ipkunis verbringen wir damit, ihm nach und nach Informationen zu entlocken. Zwischendurch schauen wir bei Luzija vorbei, sie sagt Ig’nea wehrt sich geistig gegen das Ritual, und das verlängert die Sache.
Schließlich verrät Detritor, dass er bei unserer ersten Überfahrt von Tamra mit Draka allein auf der Insel war. Sie trafen dort auf Brenell, der an der seltsamen Maschine hantierte und sie aufforderte, eine Säule zu versetzen, als Gegenleistung bot er ihnen eine wertvolle Perle. Ich dachte, nur Goin wäre so goldversessen, doch sie stimmten zu.
Als sie es taten, trennte sich plötzlich ihr Geist von ihrem Körper! Sie standen buchstäblich neben sich und mussten, zur Tatenlosigkeit verdammt, zusehen, wie ihre Körper mit unserer Gruppe weiterzogen. Später landeten ihre Seelen in den Gestalten des vernarbten Kriegers und des alten Heilers, und um wieder aus der fremden Hülle in ihre eigenen Körper zu gelangen, mussten sie sich töten lassen - von sich selbst.
Fast kann ich verstehen, warum Detritor uns diese verrückte Geschichte damals nicht erzählen wollte. Es klingt beinahe wie ein Märchen, doch wenn man bedenkt was wir schon alles erlebt haben, ist das noch gar nichts. Wer schon mit einer ganzen Stadt von einer Ebene zur anderen gesprungen ist, lässt sich so schnell durch nichts mehr erschüttern.
Er erzählt weiter, dass er sich das Tattoo in der Nacht in Irkbaz selbst angetan hat, da war er wie von Sinnen. Wenn er sich gegen dessen Macht wehrt, fügt es ihm Schaden zu, und obwohl er manchmal das Gefühl hat, dass es zu seiner Natur gehört, hat er sich doch gegen den Weg des Mals entschieden.
Während ich mit Furgas meine Tiere abholen gehe, verhört Goin unseren Freund weiter, ganz nett und liebevoll natürlich. Im Reden und Überreden ist er ein echter Künstler, da stören wir nur.
Als wir Stunden später zurückkehren, hat er ihn tatsächlich weich bekommen und Detritor erzählt uns von seinem Traum:
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Er kämpft einen aussichtslosen Kampf gegen Brenell, der so viel schmächtiger wirkt als unser kräftiger Detritor, doch am Ende wird er von seinem Schwert niedergestreckt.
Dann sieht er sich selbst mit nacktem Oberkörper, singend und mit einem Totenschädel in den Händen. Als er ihn vor seine Brust hält, wird er von seinem Körper absorbiert.
Er wandelt durch einen finsteren Gang. Am Ende ist helles Licht, wie eine sich öffnende Tür, und dahinter sieht er, glasklar und in allen Einzelheiten, Drakas Gesicht.
Orks. Überall. Er kämpft gegen sie, wird gefangengenommen und gefoltert, doch es macht ihm überhaupt nichts aus. Der Folterknecht verzweifelt schier, egal was er tut, Detritor lacht ihn nur aus und bleibt unverletzt. Doch als er einen von ihnen in die Finger bekommt, knickt er dessen Knochen wie ein dürres Ästchen. Lacht.
Dann sieht er sich selbst, wie er axtschwingend seine Feinde vor sich hertreibt, die in Panik vor ihm flüchten.
Als letztes sitzt er in einem Schaukelstuhl auf der Veranda eines hübschen Häuschens mit Garten, im Spiegel an der Wand sieht er Jahreszeiten kommen und gehen, die Zeit verfliegt, doch er altert nicht um eine Sekunde.
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Was für ein merkwürdiger Traum.
Ob es sich dabei um ein Versprechen handelt? Um eine Verführung, ein Angebot? Vielleicht erzählt dieser Traum von Detritors möglicher Zukunft, wenn er die Macht des Mals annimmt. Doch kann man dem vertrauen?
Brenell scheint es getan zu haben, denn wenn unsere Nachforschungen stimmen, ist er viele tausend Jahre alt und dennoch jung wie ehedem.
Furgas meint plötzlich, er würde gern etwas testen - und rammt Detritor einen Klingenhandschuh in den Arm! Ist er noch zu retten?! Wie zu erwarten folgt ein Echo von Detritor, der nun seinerseits die Faust in Furgas’ Gesicht versenkt. Bevor die Sache in eine Prügelei ausarten kann, ziehe ich die beiden auseinander und Elidan kümmert sich um Detritors Wunde, jetzt fällt es unserem Paladin ein zu erklären, was es mit dieser Aktion auf sich hatte: er wollte klären, ob die Wunde schneller geheilt wäre als üblich. Jetzt ist sie es auf jeden Fall.
Altert mein Freund aus Kindertagen wirklich nicht mehr? Darauf sollten wir achten. Rasieren braucht er sich scheinbar nicht.
Wir warten noch immer auf Ig’neas Vollendung des Rituals, diesmal macht ihr Sturkopf ihr Leiden nur länger.
Tagsüber bin ich im Park, genieße die warmen Sonnenstrahlen und bringe meinen Tieren neue Tricks bei. Jeder geht seinen Aufgaben nach, und Furgas hat sogar eine besondere Überraschung für mich: er präsentiert mir einen schlichten aber offensichtlich fein gearbeiteten goldenen Ring. Ein solches Schmuckstück war bestimmt nicht billig, und ich weiß doch, dass er im Gegensatz zu anderen in der Gruppe nicht gerade der Reichste ist.
Auch wenn jeder seine Tage frei gestaltet, jeden Abend treffen wir uns alle im Weißen Turm. Eines Abends sprechen wir wieder einmal über unsere Chancen bei einem Kampf gegen die Mönche. Jetzt, da Ig’nea bald nicht mehr von ihnen aufgespürt werden kann, bleibt nur noch Goin als Risiko. Die anderen diskutieren verschiedene Möglichkeiten, ihn davor zu schützen, doch plötzlich überkommt mich ein eigenartiges Gefühl. Etwas nippt an meinem Geist, wie ein feines Anklopfen.
Es erinnert mich an meinen Traum nach dem Ritual, und als ich mich dem Gefühl zuwende, höre ich wieder die leise lockende Stimme: wir können dir da helfen.
Noch immer sitzt mein Körper bei den anderen, doch mein Geist ist bei der seltsam vertrauten Stimme.
Mach ihn zu einem von uns, flüstert sie. Er muß nur den Frevel begehen.
Was meinen sie denn damit? Bestimmt den Frevel, von dem das Buch der Mönche gesprochen hat.
Bring ihn zu uns, nach Ryleh!
Von diesem Ort habe ich noch nie gehört; ist das etwa der Name unserer Heimat? Wenn wir das nächste Mal in Sigil sind muß ich unbedingt die Sinnsaten danach fragen!
Laß ihn das Buch lesen, das Buch des Wahnsinns...
Das Buch des Wahnsinns. Unter diesem Titel ist es mir zwar nicht bekannt, doch ich gehe jede Wette ein, dass es das Buch der Mönche ist. Kein schmeichelhafter Titel. Aber wenn es tatsächlich Goin zu einem von uns macht, ihn vor den Blicken der Feinde schützt, dann wäre das doch gut! Und überhaupt, wie schlimm kann es schon sein, ein Buch zu lesen.
Die Stimme verstummt und ich finde wieder zu mir selbst zurück. Sehr viel weiter sind die anderen nicht gekommen, gerade sprechen sie über Fells Tätowierungen. Ich schlage Goin vor, wegen der Sache später mit Luzija zu sprechen, sie hätte bestimmt die besten Quellen. Er ist einverstanden. Noch erzähle ich lieber nicht alles aus meiner Vision, erst will ich mehr über Ryleh herausfinden.
Endlich taucht Ig’nea wieder aus Luzijas Folterkeller auf. Im ersten Moment wirkt sie erschreckend verändert, wie ein fleischgewordener Großbrand - doch dann stellt es sich nur als einer ihrer Scherze heraus. Ja, sie ist wirklich noch ganz die Alte. Dennoch hat das lange Ritual seine Spuren an ihr hinterlassen, und auch wenn ich Sam gegenüber skeptisch geworden bin, diesmal muß ich seine Fürsorglichkeit anerkennen, denn er drängt uns, zur Erholung nach Man’s End zurückzukehren. Eine wirklich gute Idee.
Hoch zu Roß und mit allem Nötigen im Gepäck (in diesem Falle insbesondere Detritor, der dringend frischen Wind um die Nase braucht) shiftet uns Elidan in die Außenländer, und nach drei ereignislosen Tagen im Grasland erreichen wir die Stadt, zahlen eine Goldmünze für die obligatorische Scherbe und mieten uns in unserem Stammgasthaus, dem "Lachenden Halbling" ein.
Für Detritor ist die Stadt noch neu, daher führe ich ihn ein wenig herum, während sich Ig’nea erholt und Luzija mit Goin zu einer Lesestunde im Buch des Wahnsinns zusammensitzt. Ich bin wirklich gespannt, ob die Stimme Recht behält und er zu einem von uns werden wird.
Nach dem gemeinsamen Abendessen führt uns Sam zu einer Therme, in der sich bereits eine kleine Menschenmenge versammelt hat. Er zahlt einen stattlichen Eintritt und nach einem erfrischenden Bad bekommen wir Sitzplätze auf niedrigen Bänken im Wasser zugewiesen, dann beginnt ein herrliches Spektakel: Wasserspiele, Fontänen, magische Lichteffekte, bunte Schausteller, die zur Musik ihre Kunst darbieten, Halblinge in schwimmenden Nussschalen paddeln umher und servieren Leckereien.
Nach einer Stunde schreitet eine Prozession weißgekleideter Frauen und Männer in die Menge und wer ein Goldstück berappt, kann sich massieren lassen. Hier weiß man wirklich zu leben!
Am Ende singen die Halblinge ein fröhliches Abschiedslied und wir verlassen wunderbar entspannt die Therme.
Noch ist der Abend jung und Sam lenkt uns zielsicher in einen urigen Gewölbekeller, in dem ganz vorzüglicher Wein und, laut Detritor, auch gutes Bier serviert werden. Die Auswahl ist groß, doch ich denke er hat jede Sorte probiert, nur um sicher zu sein.
Zwei Stunden später verlassen wir die gastliche Stube wieder, ein wenig heiterer aber wir laufen noch gerade. Eigentlich bin ich schon ein wenig müde, doch Sam scheint noch lange nicht mit seinem Programm am Ende. Kurz darauf verlassen wir die hell erleuchteten Straßen und gelangen zu einem kleinen, dunklen See. Um diese Zeit ist niemand mehr hier, Luzija hüpft herum und - naja, sie würde es singen nennen, reißt sich die Kleider vom Leib springt ins Wasser. Auch die anderen Luftikusse können für eine Weile das kühle Naß genießen, und schließlich planschen wir alle fröhlich im See herum.
Ig’nea und Sam entfernen sich recht bald von uns, Luzija spielt Krokodil und irgendwann tunkt jeder jeden. Elidan schwimmt wie ein Fisch und möchte scheinbar am liebsten gar nicht mehr auftauchen.
Plötzlich schreit Furgas überrascht auf, ich frage mich noch was wohl ist, da spüre ich auf einmal wie etwas Großes unter Wasser blitzschnell an mir vorbeiwischt und mir dabei das Oberteil vom Leib reißt. Luzija, dieses freche Biest!
Doch bis wir an Land geschwommen sind, können wir ihr nur noch hinterher sehen, wie sie lachend Richtung Gasthaus davonfliegt. Natürlich hat sie alle unsere Kleider mitgenommen. Kaum dass ich aus dem Wasser bin, schlage ich die Flügel vor mir zusammen, auch wenn mit Ausnahme von Sam jeden hier seit meiner Geburt kenne, ist mir das ganze schon ziemlich peinlich. Doch ich merke bald, dass ich es noch gut getroffen habe - dem ein oder anderen fehlt nämlich die Hose.
Im Spießrutenlauf rennen wir, halb oder ganz nackt, über die wohlausgeleuchteten Straßen von Man's End. Wenigstens haben die Wachen genug Anstand uns nicht aufzuhalten, und es sind kaum noch Leute unterwegs. Trotzdem wäre ich am liebsten unsichtbar, aber das geht offensichtlich nicht allen so, denn die anderen finden genug Zeit, ausgiebig auf die Tätowierung zu starren, die ich mir bei unserem letzten Besuch in Sigil von Fell habe stechen lassen. Einigen gefällt es, doch gerade im Moment bin ich für solche Komplimente nicht empfänglich.
Ungebremst stürme ich in die Taverne, hechte am völlig verdutzten Wirt und einigen johlenden Schluckern vorbei und stürze die Treppe zu den Gästezimmern hinauf, wo ich atemlos zu Boden sinke. Die anderen folgen kurz darauf, mit Luzijas Beutel in der Hand. Endlich wieder Kleider! Sie hatte den wohl beim Wirt deponiert, wenigstens etwas.
Wir bleiben noch ein paar Tage hier und warten auf Ig’neas Genesung, langweilig wird es in Man’s End so schnell nicht: Jeden Tag warten Heiler und Theaterhäuser mit Wohltaten und Schauspiel auf, so dass für Körper und Geist gut gesorgt wird.
Als ich eines Morgens nach einer langen Nacht in den "Lachenden Halbling" zurückkehre, finde ich nur Elidan und Detritor am Frühstückstisch vor. Sie erzählen, dass sich Ig’nea mit Goin im Zimmer eingeschlossen hat und Furgas noch schlafe, doch als sie bei ihm klopfen und er die Treppe hinunter kommt, sieht er nicht gerade erholt aus. Eher als hätte er wieder Stunden auf seinem Lieblingsholzklotz verbracht: dunkle Augenringe, tiefe Kerben in den Knien. Wie einem das so viel bedeuten kann, werde ich wohl nie verstehen, aber ihm scheint es zu gefallen.
Obwohl, seine Laune ist nicht gerade die beste. Als er sich mit Elidan anlegt, beschließe ich spontan, dass Frühstück doch überschätzt wird und verlasse den Halbling wieder. Draußen ist die Luft besser.
Nach einer Weile kommen Elidan und Detritor nachgeflogen; sieh an, ist unser Elf also endlich flügge geworden! Ein wenig unsicher ist er noch mit seinen neuen Flugstiefeln, also nehmen mein alter Freund und ich ihn unter unsere Fittiche und üben den restlichen Tag mit ihm Flugmanöver.
Am Abend sind wir endlich wieder vollzählig am Tisch. Goin schwebt grazil wie ein Zwerg die Treppen hinunter, das war ja zu erwarten. Da Ig’nea offensichtlich wieder voll hergestellt ist, beschließen wir, am nächsten Tag Man’s End zu verlassen und uns auf den Weg zur Insel zu machen.
Doch die letzte Nacht hier ist noch jung, und als Furgas völlig übermüdet eingeschlafen ist und seine wohlverdiente Ruhe bekommt, schleiche ich mich leise aus dem Zimmer. Im Schankraum ist nicht mehr viel los, daher schlendere ich zu dem kleinen See abseits der Straße, den uns Sam vor ein paar Tagen gezeigt hat, und schwimme ein paar Runden. Es dauert nicht lange und ich bekomme Gesellschaft. In der Ferne schlägt eine Glocke Mitternacht, doch für mich ist gerade die Sonne aufgegangen.
Den eigentlichen Sonnenaufgang Stunden später muß ich verschlafen haben, denn das erste, was ich aus schlaftrunkenen Augen erblicke ist - mein Ebenbild! Steht mitten im Zimmer und grinst mich überrascht aber wissend an. Dann reißt jemand die Fensterläden auf, Licht ergießt sich flutartig in den Raum und blendet mich. Ist das etwa Furgas? Wie kommt er denn hierher? Die Konturen meines Ebenbildes verschwimmen und plötzlich steht Ig’nea vor mir. Jetzt verstehe ich. Sie haben mich gesucht.
Das Licht hat auch Jarvis neben mir geweckt und er reibt sich schlaftrunken die Müdigkeit aus seinen schönen, hellblauen Augen. Als Furgas ihn erkennt, schreit er wütend auf - und stürzt sich aus dem Fenster. Einen Moment lang mache ich mir Sorgen, doch dann erinnere ich mich an das Elixier der Lüfte. Ig’nea steht noch immer stumm mit einem breiten Grinsen im Gesicht im Zimmer und schaut abwechselnd mich und Jarvis an, und plötzlich muß auch ich lächeln. Sie versteht das auch ohne große Worte.
Wer hätte gedacht, dass ich das einmal von ihr sagen würde.
Eine Stunde später habe ich mein Ur’epona im besten Stall einquartiert und stehe abmarschbereit bei den anderen vorm "Lachenden Halbling". Furgas ist nicht da, er hat sich nach seinem Abgang durchs Fenster nicht mehr blicken lassen, auch Elidan hat die Stadt, laut Wachen, bereits in Richtung Fluß verlassen.
Ich schlinge die Arme um Detritors breite Schultern und geschwind sausen wir dem Vorauseilenden hinterher. Sechs Stunden später haben wir ihn auf seinem Geisterroß eingeholt, und nach einer kleinen Diskussion können wir ihn zumindest dazu bewegen, gemeinsam weiter nach Süden zu reisen.
Was soll nur dieses ganze Gerede, wir seien keine Gruppe mehr? Gut, wir verändern uns eben schneller als er, dafür lebt er aber auch viel länger und kann sich mehr Zeit damit lassen. Früher im Dorf, als er noch jung war, hat er angeblich auch Schabernack getrieben, aber das war vor meiner Zeit. Hat er das schon vergessen?
Ig’nea wispert uns zu, dass sie sich zu uns auf den Weg machen und am Stadttor auch auf Furgas getroffen sind, zwar war er blutbespritzt aber ansonsten gesund. Zwei Tage später ist unsere Gruppe wieder vereint und zwei Wochen später kommen wir an Ordos Sommerhaus an. Furgas redet noch immer kein Wort mit mir; ich kann ihn ja verstehen. Die anderen tragen es leichter, Luzija ist sogar sehr angetan wie es scheint. Aber unsere Verbindung ist seit dem Ritual sowieso anders geworden.
Das Sommerhaus ist in einem wirklich traurigen Zustand. Offenbar ist seit unserem letzten Besuch niemand mehr hier gewesen und es verfällt langsam aber stetig. Im Bootshaus finden wir ein zehn Meter langes Segelboot, doch wir entscheiden uns für den schnelleren Luftweg. Also jage ich uns Proviant, dann fliegen wir auf den See hinaus.
Eine Woche lang sehen wir nichts als Wasser. Ich versuche mich zu orientieren, magisch und auch mit konventionellen Methoden wie Holzstöckchen und Strömung, nachts schlafen wir in herbeigezauberten Hütten wie vor kurzem in Kront.
Ich weiß er glaubt, ich hätte es nicht bemerkt, aber ich habe gesehen, dass Furgas den Ring ins Wasser geworfen hat. Noch immer schweigt er sich aus.
Endlich tauchen vor uns wieder die blauen Flecken im Wasser auf. Es dauert nicht lange und wir haben die richtige Stelle gefunden, und noch bevor Luzija die Wirkung des Luftelixiers aufheben kann, ist Furgas schon davon getaucht. Er wird sich doch noch irgendwann umbringen, nur jetzt ist es nicht mehr sein Leichtsinn sondern seine Sturheit.
Auf der Insel bietet sich das altbekannte Bild: der im unsterblichen Kreislauf der Wiedergeburt gefangene Echsenmensch ist hier, die Maschine, das Moos, aber kein Brenell. Also haben sie das Kind wohl noch nicht hierher gebracht. Doch warum warten, wenn man den Schlüssel in den Händen hält? Warum noch kein Angriff auf Man’s End, um Quesre zu erschüttern und die Insel nach Baator zu ziehen? Oder braucht es gar keinen, sondern etwas Subtileres?
Ig’nea versetzt sich in Trance während wir anderen umherstreifen und erzählt anschließend eine Geschichte, die uns stellenweise sehr bekannt vorkommt:
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Die letzten drei Tode der Echse, bedauernswert. Sie versucht noch immer, das Geheimnis der Maschine zu ergründen, gewinnt Erkenntnisse und vergisst sie doch nach ihrem Tod wieder.
Dann sieht sie Draka und Detritor allein auf der Insel, Brenell schiebt an den Säulen herum. Erst ist er gleichgültig, doch dann fällt sein Blick auf das Bündel mit dem Baby an Drakas Gürtel. Panik steigt in ihm auf, und das bei Brenell! Er beginnt ein Gespräch. Die beiden freuen sich, wahrscheinlich hat er ihnen gerade die hohe Belohnung versprochen. Brenell zaubert etwas, holt aus einem Sack die Echse - er will nur weg von hier, weg, doch dann ein Hoffnungsschimmer. Die Lösung!
Er lässt Draka und Detritor ein paar Säulen verschieben, plötzlich entläd sich etwas und es gibt zwei Drakas und Detritors. Die Echse wird von der Macht der Maschine förmlich zerfetzt, sie wird wohl durch Lebenskraft gespeist wie der Schild in Ipkunis. Jetzt ist Brenell erleichtert, gibt den beiden etwas und dann verschwinden sie. Zu uns, wie wir wissen.
Also wollte Brenell das Baby nicht auf der Insel haben. Doch warum? Warum hat er es ihnen nicht damals schon abgenommen? Das verstehe ich nicht.
Lange kann ich nicht grübeln, denn Detritor, der sichtlich mit sich gerungen hat, verrät uns eine weitere Geschichte. Wann hat diese Heimlichtuerei denn endlich ein Ende? Er erzählt uns, dass er und Draka nach ihrer Trennung als Geister zu der Stelle gereist sind, an der auf der Karte in Ordos Haus mehrere große X eingezeichnet waren. Sie fanden dort ein paar aufgegebene Stollen, doch in einem war ein Grab mit einem großen humanoiden Drachenskelett auf einem Thron mit der Aufschrift „Tatz Driz Tor“. Das war einer der drei Gründer von Quesre!
Es gab auch einige Wachen dort, doch das Auftauchen der Geister und ein paar seltsame Effekte, die Detritor nicht näher beschreiben wollte, haben wohl zu ihrer Auslöschung geführt. Ebenso in der nahegelegenen Garnison. Haben sie etwa dort zu zweit einen Krieg geführt? Der irre Wächter, der uns damals nachts überfiel, war vielleicht einer der letzten Überlebenden.
Diese Grabkammer sollten wir uns anschauen, hier auf der Insel können wir nicht viel ausrichten ohne das Baby. Elidan taucht plötzlich hinter uns auf, wo kommt er plötzlich her? Er trägt jetzt eine schwarze Brustplatte und sieht immer weniger wie der Magier aus, den wir mal kannten. Ich finde es immer wieder interessant zu sehen, wie das Ritual manche von uns verändert.
Sechs Tage später sehen wir wieder das Festland und haben kurz darauf den von Detritor beschriebenen Stollen gefunden. Marode sieht er aus, also krabbele ich sehr vorsichtig hinein. Es riecht faulig und modrig, sehr wohl fühle ich mich untertage nicht. Der kurze Gang mündet in eine relativ große Kammer, die jedoch fast gänzlich von einem steinernen Thron, auf dem das Skelett eines Drachkin sitzt, eingenommen wird.
Die anderen kommen auch nach, langsam wird es voll hier. Furgas greift nach einer herabgesunkenen Klaue des Drachen und verharrt mitten in der Bewegung. Elidan sieht etwas, das ich offenbar nicht sehe, denn er beginnt zu zaubern, auch Luzija hüpft auf Maikäfergröße geschrumpft auf und ab und wirkt Magie. Da ich hier nichts tun kann, verlasse ich den engen Raum schleunigst, auch Detritor verlässt die Kammer.
Eine ganze Stunde warten wir draußen. Anfangs tut sich noch etwas da unten, doch dann warten wir nur auf Ig’neas Vision. Luzija teilt uns mit, dass die Inschriften im Grab der uns bekannte Text von Einauge sei, nur mit dem Zusatz: Hier ruht Einauge und wacht über das Auge. Irgendein Bannzauber habe auf dem Skelett gelegen, und als Furgas beide Hände des Drachen anfasste fing er an zu schweben, der Bann wurde schwächer, Kraftlinien hätten auf ihn übergegriffen und schließlich sei der Bann ganz erloschen, das Skelett zerfallen. Merkwürdig.
Ig’nea bestätigt, dass irgendetwas auf Furgas übergegangen ist, des weiteren hat sie folgendes gesehen:
Zwei schwer gerüstete Männer kommen herein. Sie spürt Verwirrung, Zorn, Angst und Trauer.
Detritor und Draka stehen hier, Waffen gezückt. Leute kommen dazu, sie kämpfen.
Brenell sticht einen anderen Gräber ab und wirft seine Leiche mittels Psi aus der Höhle, er freut sich über den Fund.
Zuvor bricht er mit demselben Gräber durch die letzte Mauer, die den Tunnel von der Kammer trennte, sie sind in freudiger Erwartung aufgeregt.
Dunkelheit.
Immer ist dieser Brenell einen Schritt vor uns da. Sehr auffällig. Was wollte er von Tatz? Und wie hat er Ordo dazu gebracht, ihm diese Grabungen zu finanzieren, denn warum sonst hätten wir Karten und Ausrüstung in dessen Haus gefunden? Mir brummt der Schädel.
Furgas ist wieder zu sich gekommen und möchte unbedingt den See sehen. Luzija betrachtet ihn und meint, dass hinter seinem Gesicht das eines goldenen Drachen zu sehen sei, doch er behauptet er würde nichts davon merken, er wolle doch nur das Wasser sehen. Sie fesseln ihn, setzen sich in den unmöglichsten Gestalten auf ihn drauf - irgendwann wird es mir zu viel und ich spiele lieber ein wenig abseits mit meinem Limlim.
Da sehe ich an der Küste einen einsamen Wanderer nach Süden laufen. Wer verirrt sich bloß in solch eine Gegend? In dem Moment verwandelt sich Ig’nea erneut, in eine riesige, furchteinflößende Untotengestalt. Sofort nimmt der Fremde reißaus, auch ich entferne mich lieber ein bisschen von dem Ungetüm.
Vielleicht ist der Neue ja interessant, also fliegen Luzija und ich hin. Natürlich ist er misstrauisch, wer wäre das nicht, ein Nightcrawler läuft gerade mit uns herum. Er sagt, er sei ein Krieger auf dem Weg nach Tamra, dort würde gekämpft werden. So viel scheint wahr zu sein, denn von dem Kampf der Drachen gegen die Baatezu haben wir schon gehört. Luzija schäkert mit ihm, stößt dabei aber auf wenig Gegenliebe. Schließlich lassen wir ihn ziehen und kehren zu Furgas zurück, der endlich seinen See gesehen hat und zufrieden ist.
Wohin soll unsere Reise nun führen?
Einerseits würde ich gern nach Sigil zurück und nach ein paar Dingen in der Halle der Sinnsaten forschen; andererseits sind wir schon auf halbem Weg nach Tamra, und vielleicht war unser Zusammentreffen mit dem Krieger ein Wink des Schicksals.
Was ist dieses Auge, das Tatz Driz Tor bewachte? Warum wollte Furgas auf einmal den See sehen - ist der See das Auge? Das helle Wasser um die Insel, das hellblaue Auge?
Wo ist das Baby und warum hat es Brenell nicht damals schon an sich genommen?
Was war das für ein Ritual in Irkbaz`?
Können uns die Drachen in Tamra bei Furgas’ Besessenheit helfen? Immerhin war Tatz einer von ihnen.
Wie wollen die Baatezu die Kontrolle über die Insel erlangen? Sind sie etwa schon dabei?
Und wann sehe ich Jarvis wieder?
All diese Fragen gehen mir durch den Kopf, während wir die nächsten zehn Tage lang über den See fliegen - bis am Horizont die geschwärzten Trümmer Tamras auftauchen ...
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