Juvanis

Montag, März 22, 2010

Der ewige Kreis

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Wenige Stunden später brechen wir auf gen Tamra. Die verwirrten Materier haben wir, wie versprochen, durch das Portal mit genauen Anweisungen in ihre Heimat entlassen. Vielleicht nehmen sie doch die ein oder andere Weisheit aus ihren Erfahrungen hier mit; dass ihnen noch einmal ein derartiges Abenteuer widerfährt, ist schließlich äußerst unwahrscheinlich.

Ohne sie sind wir jedenfalls deutlich schneller unterwegs. Schon einen halben Tag später langen wir am Ufer des „hellblauen Auges“ an. Wie beim letzten Besuch verschleiern wir unsere Anwesenheit hinter einem Unsichtbarkeitszauber und brausen im Tiefflug über den See Richtung Stadtmauer. Sicherheitshalber kontaktiert Ig'nea Chronos und informiert ihn über unser Kommen; noch einmal beschossen werden muß ja nicht sein.

Von Tamra ist erstaunlicherweise noch immer einiges übrig, was nach den anhaltenden Kämpfen nicht zu erwarten gewesen war. Ein paar mehr Brand- und Rußflecken vielleicht, verätzte Krater und Trümmer.

Doch auf dem Steg vor der Stadt erwartet uns eine ganz andere Überraschung: Draka!!

Wir lassen alle Vorsicht und Vezauberung augenblicklich fallen und begrüßen unsere langvermisste Schwester gebührend. Am liebsten würde ich sie sofort ausfragen, wo sie bloß so lange gesteckt hat ohne sich zu melden, doch in ihrer typisch ruhigen, bestimmten Art meint sie nur, sie habe viel studiert und uns dann lange gesucht.
Selbst das Kind scheint sich an sie zu erinnern und klettert zutraulich auf ihre schuppige Schulter. Ein bißchen stolz sind wir in dem Moment schon, dass wir es geschafft haben, den Kleinen zurückzuholen. Draka hätte uns sonst die Ohren langgezogen.

Und als ob sie hier vollkommen vertraut wäre, führt uns Draka in das Hauptquartier der Drachkin. Durch den abfallenden Gang, die Falltür, die leuchtenden Bodenfliesen, vorbei an vielen bekutteten Drachen, bis hin zum Plateau im Herzen der Maschine.
Eine auffällige Veränderung gibt es jedoch: von der Decke baumeln, säuberlich in Ketten gelegt, zwei Gestalten. Jarvis!, denke ich sofort, doch keine der beiden traurigen Figuren hat auch nur annähernd Ähnlichkeit mit meinem herrlichen Elfen. Der eine ist ein zu kurz geratener Zwerg (muß ein Halbling sein), der andere ein Hühne in schwerer Rüstung. Dem martialischen Aussehen nach gehört er dem Harmonium an, einem der Bünde Sigils, wie es auch die Sinnsaten sind. Sie sehen sich als Hüter der Gesetze, und tatsächlich bestätigt Ig'neas prüfender Blick diese Annahme: der Halbling ist ein recht bekannter Langfinger namens Flinkefuß, der in Sigil in den falschen Taschen stibitzt und sich eine Menge Ärger eingehandelt hatte. Das Harmonium ist ihm deswegen schon lange auf den Fersen. Nun haben sie ihn offenbar geschnappt, doch wohl nicht ganz so, wie sie sich das vorgestellt hatten.

Ein Drache gesellt sich zu uns, und erst als er spricht, erkennen wir an seiner Stimme, wer hier vor uns steht: Aldred! Es ist schön, ein bekanntest Gesicht zu sehen. Naja, auch wenn das Gesicht selbst neu ist.
Als er unsere neugierigen Blicke bemerkt, erklärt er, die beiden Gefangenen seien Spione, die man tags zuvor in den Ruinen hatte herumschleichen sehen. Ig'nea kann diesen Irrtum glücklicherweise aufklären, doch nun haben wir einen dankbaren Offizier des Harmoniums und einen irgendwie eingeschüchterten Halbling am Rockzipfel hängen - denn hierbleiben, das macht Aldred sofort unmißverständlich klar, können sie auf keinen Fall. Man rüstet sich bereits für den letzten Marsch gegen die Insel, da ist für Gäste kein Platz.

Marsch auf die Insel? Ich horche auf. Das klingt sehr endgültig und schwer nach Gewalt. Furgas' Augen leuchten auch schon wieder bedenklich.
„Lieber zerstören wir die Insel, als dass sie den Teufeln in die Hände fällt.“ meint Aldred im Brustton der Überzeugung. „Sobald Chronos mit den anderen zurück ist, brechen wir auf. Wir werden sie zurückschlagen, ein für allemal. Wenn sogar schon Grubenfürsten wie Mephistoteles hier ungeniert herumlaufen, ist es an der Zeit, sie endlich in die Schranken zu weisen. Wußtet ihr denn nicht, dass er einer der Dunklen Acht ist? Er herrscht über Mephista.“
Nun ist es an uns, ziemlich kleinlaut dreinzuschauen. Einer der Dunklen Acht. Das verheißt nichts Gutes. „Da habt ihr euch ja gleich mit den großen Jungs angelegt“, lacht Aldred. „Ein Grund mehr, sie in die Grube zurückzutreten, aus der sie gekommen sind.“

Die ganze Zeit nagt etwas an meinem Geist, eine Erinnerung, doch es dauert eine ganze Weile bis sich unter all den wirren Ereignissen der jüngeren Vergangenheit ein klares Bild herauskristallisiert: Wir sitzen in Ychts vezaubertem Märchengarten. Essen von seinem Brot... und reden über Abenteurerkram!
„Das geht nicht!“, platzt es aus mir heraus. „Ycht hat gesagt, dass er die Insel schon sechs Mal hat untergehen sehen. Sie kommt also immerwieder, es gibt keine endgültige Lösung, der Kreislauf beginnt von vorn.“

Alle schweigen. Erinnern sie sich denn nicht?
Aldred mustert mich lange. Dann bittet er mich, zu wiederholen was ich gerade gesagt habe. Höre ich Zweifel in seiner Stimme? Ycht scheint er zumindest zu kennen.
„Wir müssen seinen Rat einholen.“, entscheidet Aldred schließlich. „Sobald die anderen zurück sind.“

Die nächsten zwei Tage sind von einer seltsam bedrückten Ruhe erfüllt. Fast bereue ich schon, ihnen die Worte Ychts gesagt zu haben. Doch wäre es besser gewesen, sie voller Aktionismus in einen Kampf rennen und darin sterben zu lassen, der nicht das hält, was sie sich von ihm versprechen?
Luzija kümmert dergleichen wenig. Sie hat sich Flinkefuß buchstäblich unter den Nagel gerissen und ... ich will es gar nicht genauer wissen. Nach ein wenig herumgetanze erwähnt sie zumindest, dass der Zodar mit dem Schwert nun in Minauros sei; einer weiteren, unangenehmen Unterebene Baators. Er steigt also immer tiefer hinab.

In den wenigen Stunden, in denen wir uns nicht an den Scharmützeln in der Stadt beteiligen (nur um in Form zu bleiben, wie Furgas sagt) oder ich meiner ganz persönlichen Nemesis, die mich auch hier wiedergefunden hat, nachjage, grübele ich über das Kind nach. Den Schlüssel zur Insel. Wäre es sicherer, ihn in unser Dorf zu bringen? Oder nach Ryleh? Doch selbst wenn, ich wüßte ja nicht einmal wie ich das bewerkstelligen sollte. Der Kleine ist immernoch unergründlich. Einmal hätte er beinahe wie ein unbedarftes Kind Dorn angefaßt. Einer der Drachen konnte ihm gerade noch die Hand wegschlagen, wer weiß was sonst passiert wäre.

Endlich trifft Chronos ein. Seine massige, güldene Gestalt ist auch nicht zu übersehen. Die Drachkin berichten sich in ihrer eigenartigen, gutturalen Sprache die neuesten Ereignisse und kurze Zeit später brechen wir in Begleitung von Aldred, Chronos und dem dürren Gevatter auf. Die drei gehen den konventionellen Weg und schleichen durch die Stadt, doch Luzija bietet uns mittels Teleport eine Abkürzung.
Im Nachhinein kommt es mir noch immer ein wenig verdächtig vor, dass nur Aldred und Chronos die Stadt lebend verlassen haben. Goin, der nicht mit uns teleportiert war, meinte später nur, Gevatter habe beschlossen irgendeine „nächste Stufe“ zu erreichen und sei tot. Ich weiß bis heute nicht, ob ich ihm das glauben soll oder nicht.


Wir treffen uns an der Grenze zu Ychts Reich wieder und wandern eine Woche vorsichtig durch das üppig grünende Feenreich des alten Drachen, bis wir an seiner Hütte anlangen. Es ist merkwürdig, plötzlich einen strahlend blauen Himmel zu sehen, wo uns vorher das immerwährend fahlgelbe Leuchten der Außenländer überspannte. Elidan ist so freundlich, die stille Reisegruppe mit herbeigezauberten Leckereien zu versorgen; einfach etwas aus Ychts reichem Naturgarten zu pflücken käme uns nicht in den Sinn.

Im Vergleich zu unserem letzten Besuch erscheint Ycht nicht sehr begeistet, als er uns erblickt. Er drückt uns ein paar Holzbohlen mit Brotlaiben darauf in die Hand (die Drachenversion einer Vesper) und besteht darauf, mit den Drachen aus Kront allein zu reden. Ein wenig enttäuscht bin ich schon, es hätte mich doch sehr interessiert, was Ycht ihnen zu der Insel zu erzählen hat. Uns gegenüber war er ja sehr verschlossen und hatte alles als „Abenteurerkram“ abgetan und weiter nichts gesagt. Nicht einmal das leckere Brot täuscht über diesen Affront hinweg, und das obwohl der Sinnsat in mir jubelt, so gut schmeckt es nach Anis und fremdartigen Gewürzen.

Ig'nea scheint nicht hungrig zu sein, jedenfalls hat sie sich in gewohnter Manier irgendwo abseits ins Gras gesetzt, an den Stamm einer mächtigen Eiche gelehnt, und ist mit ihren Gedanken woanders. Luzija lauscht anfangs an der Tür, doch wenn die nur halb so dick ist wie unsere Essenbrettchen, hat sie keine Chance.

Wenig später tritt Ycht aus seinem Haus, allein. Ernst redet er auf uns ein, dass die Drachkin ob der neuen Erkenntnisse wohl den Kampf um Tamra aufgeben würden, da ein finaler Sieg unerreichbar scheint. Und dass er dies im Grunde sehr bedauert, denn für eine Überzeugung zu kämpfen könne durchaus sinnvoll sein, auch wenn der gewünschte Erfolg dabei ausbleiben kann. Er selbst kann und wird sich in die Belange um die Insel nicht einmischen; dafür steht auch für ihn zu viel auf dem Spiel, denn er ist nicht nur ein Drache, sondern auch der Schöpfer dieser Taschendimension, für die er nun verantwortlich ist.
Würde er sich einmischen, so würden sich „die anderen“ ebenfalls zusammentun und ihm das Leben hier zur Hölle machen. Deshalb gibt er weder Informationen noch greift er in solchen Kämpfen ein, sondern bleibt hier in seinem Reich.

Das einzige, was er bereit ist zu verraten, ist, dass es sich bei der Insel um einen der vielen Schauplätze des Blutkrieges handelt, der auf den Unteren Ebenen tobt und seine Auswüchse bis hier in die Außenländer getrieben hat. Auch hier werden vereinzelte Gebiete umkämpft, erobert, zurückerobert, vernichtet, wiedergeboren. Dunkel erinnere ich mich an seine Worte damals über die Triade, die drei Städte, die das Gebiet stabilisiert hatten: Tamra, Ipkunis und Man's End. Der Krieg müsse immer weiter gehen, dürfe niemals final enden, und die Götter seien im Grunde nur Zuschauer in diesem Spektakel.
Vielleicht ist es gerade an der Zeit, dass das Gefüge wieder kippt und die Insel in neue Hände fällt - nur um irgendwann zurückerobert und erneut stabilisiert zu werden, im ewigen Kreislauf des Blutkrieges.


Mit diesen Worten läßt Ycht uns zurück und zieht sich wieder in seine Hütte zurück. Ig'nea erwacht aus ihrer Trance, läßt sich die Neuigkeiten berichten und erzählt dann, was sie gesehen hat:

>>

Brenell war vor etwa zehn oder zwölf Jahren hier, kurz nach dem Besuch einiger Drachkin.
Dann wir bei unserem ersten Besuch, weitere Drachen, eine ganze Gruppe die eine Art Rat abgehalten hat.
Brenell erneut, er schlägt nach Ycht jedoch scheint er dies ohne rechten Willen zu tun, beinahe spielerisch. Wieder eine seiner haarspalterischen Täuschungen, wenn er etwas im Namen seiner Herren ausführen soll, was er nicht will?
Zuletzt ein Flammenwesen, dass einige Bäume und Sträucher abfackelt.

<<

Zumindest hat Ycht wohl nicht gelogen: er ist zwar sehr mächtig, aber nicht allmächtig. Wenn er sich zu weit aus dem Fenster lehnt, hat auch er mit den Konsequenzen zu leben. Und ich kann ihm gut nachempfinden wie es ist etwas zu verlieren, an dem man so sehr hängt wie Ycht an seinem Garten.


Erneut stellen wir uns nun die Frage: was tun?
Wenn die Drachen den Kampf um Tamra aufgeben, ist das ein großer Sieg für die Neun Höllen und das Ende der Triade. Doch da sind ja immernoch unsere chaotischen Orkuntertanen im ehemaligen Ipkunis, und Man's End. Hoffen wir, dass zumindest die gerechte Lady Eladrin die Stellung noch eine Weile halten kann. Vielleicht ist ein Duett ja immernoch stark genug? Doch mein Wissen über die Funktion der Ebenen reicht nicht aus, um in solchen Maßstäben Vorhersagen zu treffen.

Ig'nea macht einen ungewöhnlichen Vorschlag: wir sollten versuchen, noch einmal Kontakt mit Brenell aufzunehmen, allerdings an einem Ort, an dem wir vor unerwünschten Lauschern geschützt sind und er offen sein kann - wenn er will.
Verdutzt schauen wir unseren hitzigen Genasi an. Wo will sie so einen Ort finden? „Träume sind Schäume.“, grinst sie, und erläutert uns das nächste Reiseziel:

Die Traumwelt!
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Mephistopheles

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Vier Tage sind wir nun schon unterwegs nach Irkbaz. Die großen, verfallenden Ruinen schieben sich nur langsam, fast widerwillig, näher. Wir reden nicht viel, der Weg (der keiner ist) ist auch so schon beschwerlich genug. Mit den drei Materiern und ihrem Esel im Schlepptau sind wir auf schnödes Laufen beschränkt; einzig die Elfe scheint eine gute Ausdauer zu besitzen und den Marsch gut zu verkraften.

Wenn es sich die anderen abends um das Feuer gemütlich machen, mache ich mich auf den Weg und frische unser Proviant mit dem üppigen Wild auf, das hier durch die Wälder streift. Im übrigen hat es den Charme, dass ich mich dabei ungestört mit Jarvis treffen kann. Sonja ist mir zwar einmal neugierig nachgeschlichen, aber wer mich beschatten will, muß früher aufstehen. Ich bin nur froh, dass mein blondes Lieblingselfchen nicht in Ribcage von einem Rhinozeros zertrampelt wurde.

Am achten Abend jedoch unterbricht ein Schrei meinen nächtlichen Streifzug durch die Wälder. Ig'nea? Nein, nicht ihre Art. Goin? Nicht melodisch genug. Auch ganz sicher nicht Detritor oder Furgas. Eine der beiden Frauen also.
Als ich atemlos ins Lager stürme, hängen die beiden Frauen an Detritor und versuchen mit vereinten Kräften, ihm die Kleider vom Leib zu reißen. Hab ich irgendwas verpasst? Aber Detritor macht keinen allzu begeisterten Eindruck. Kein Wunder, denn was uns die aufgeregten Materier erzählen, ist mehr als merkwürdig.

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Alle drei, Sonja, Garm und Farisa, hatten denselben Traum: sie sehen Detritor, frisch und gesund wie er einst war, bei seiner ersten Begegnung mit Brenell hier in den Ruinen von Irkbaz, nur schon einige Jahre her. Die Landschaft um Brenell wirkt in seinem Umkreis verdreht und verzerrt, als er von einer Heuschrecke angesprungen wird, verendet sie sofort.

Als sie schweißgebadet erwachten, wollten sie Detritor zur Rede stellen. Daher also der Lärm.

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Plötzlich ist auch unsere Neugierde geweckt. Über diesen wunden Punkt seiner Vergangenheit hat sich Detritor bislang hartnäckig ausgeschwiegen, und wir hatten ihn gelassen. Doch nun lassen wir uns nicht abbringen. Gemeinsam versuchen wir, ihn aus seiner Rüstung zu schälen, ihm gut zuzureden, ihm zu drohen, und lassen sogar zu, dass Ig'nea ihre Manipulationen einsetzt. Schließlich gibt er entnervt der Übermacht nach und enthüllt ein paar Details:

Scheinbar hatte Detritor nach dem Treffen mit Brennel eine Art Wahn ergriffen. Er fügte sich das grausige Totenkopftattoo während eines archaischen Rituals am Lagerfeuer mit brennenden Holzscheiten selbst zu, weil er damit eine Verbindung zum Dorf herstellen wollte. Oder besser, zu den „Ahnen“, die ihm zugeflüstert hatten. Sie lockten ihn mit dem Versprechen von Macht - aber gegen einen Preis: er müsse den Totenkopf mit den Schädeln seiner erschlagenen Feinde füttern, um an Macht zu gewinnen.
Nicht dass ich etwas gegen das Prinzip von fressen und gefressen werden hätte. Aber diese Art der Fütterung möchte ich mir auf gar keinen Fall vorstellen.


Betretenes Schweigen.
Allein Goin scheint nicht sehr geschockt von dieser Offenbarung zu sein.
Da wir nichts an der Vergangenheit ändern können, beschließen die anderen aber am Ende trotzdem, noch ein paar Stunden dringend benötigten Schlaf zu bekommen, während ich am Feuer Wache halte. Ein wenig mulmig ist uns schon; ich kann nur hoffen, dass diese Ahnen Detritor nicht eines Tages einflüstern, unsere Köpfe an das Tattoo zu verfüttern.


Die nächsten sechs Tage verlaufen im Vergleich dazu ereignislos. Wir erreichen erst die Ausläufer der Ruinenstadt, dann endlich den Goldenen Tempel im Zentrum Irkbaz'. In all den zehn Tagen haben wir immer wieder Spuren der beiden Gejagten gefunden, doch nicht sie selbst. Verdammte Langsamkeit.
Da der Tempel noch immer auf der abgeschiedenen Insel im Zentrum der ehemals wassergefüllten Kanäle liegt, müssen wir uns aufteilen, um die drei Materier samt Esel hinüberzufliegen. Doch wir sind auf ihre Hilfe angewiesen: die massiven Goldportale sind so schwer, dass wir selbst mit vereinten Kräften eine Viertelstunde brauchen, um sie aufzudrücken. Drinnen erwartet uns ein gewaltig großer Innenraum, völlig leer bis auf einen massiven Steinaltar. Durch die Öffnung in der Decke ergießt sich ein heller Lichtstrahl darauf, feine Staubpartikel reflektieren wie Silber.

Meine Spurensuche endet hier, doch Ig'neas Spürsinn verrät uns, dass die beiden tatsächlich hier gewesen sind, und zwar erst gestern! Die Frau, eine etwa 40jährige dürre Menschenfrau, wirkte erschöpft, und nachdem das Kind etwas Langwieriges am Altar gezaubert hatte, verließen sie den Tempel Hand in Hand wieder. Die Geste schien vertraut, aber nicht mütterlich.
Elidan, der sich eine Weile in Versenkung begeben hatte, verkündet, dass hier eine Planare Bindung gezaubert wurde. Er führt das auch weiter aus, doch schon nach den ersten paar Worten verliere ich den Zusammenhang. Irgendetwas magisches eben.


Dass die beiden Verfolgten vor so kurzer Zeit erst hier waren, gibt uns neuen Mut. Vielleicht können wir sie noch einholen, erschöpft wie sie sind! Augenblicklich brechen wir auf, und so schnell wir können folgen wir dem Weg, den Ig'nea sie hat gehen sehen. Hier sind die Spuren im Gras auch noch ganz frisch.

Wir können unser Glück kaum fassen, als wir nach zwei Stunden zwei Gestalten vor uns erkennen: die Frau mit dem Kind! Doch gleichzeitig bemerken wir auch diesen magisch-göttlichen Verdrehungseffekt - nun wissen wir ganz sicher, dass hier enorme Mächte am Werk sind. Dennoch haben wir keine Wahl.
Ig'nea wagt sich, heißblütig wie immer, als erste vor. Sie nimmt mentalen Kontakt zu dem Kleinen auf und er sagt ihr ganz zutraulich, er wäre auf dem Weg nach Hause, nach Mephista. Diesen Namen sollten wir uns gut merken! Als sie die vermeintliche Hebamme befragt, antwortete diese mit einer äußerst unweiblichen, teuflisch grollenden Stimme. Ig'nea verrät uns nicht, was genau „sie“ gesagt hat, doch sicher waren es keine Komplimente.

Das jedoch genügt unserem strahlenden Helden Thorms: Furgas stürmt vor, will Dorn zücken - und hält inne. Wir sind überrascht, hat er ausnahmsweise eine göttliche Eingebung und sieht vom selbstmörderischen Angriff ab? Doch da dreht er sich auch schon um und stellt sich schützend vor die Frau und das Kind! Was soll das plötzlich?

Neben mir wächst Ig'nea zu einem beachtlich furchteinflößenden Balor heran, Farisa macht eine ebenso eigentümliche Veränderung in eine große Fledermaus durch. Da ich mit solchen Verschönerungen nicht dienen kann, begnüge ich mich damit, meinen Bogen mit den besten Pfeilen zu spannen, die ich im Köcher finde. Auch die anderen zücken ihre Waffen. Doch was ist bloß mit Furgas los?
Plötzlich verliert auch die verhärmte Frau ihr Äußeres, ihre Konturen beginnen zu zerfließen und gleichzeitig zu wachsen. Erst schwelt um uns herum das Gras, dann fängt es Feuer, der Gestank von Schwefel und Asche tränkt die Luft. Der Himmel über uns verdunkelt sich. Inmitten des brennenden Infernos, wo eben noch die Menschenfrau stand, erhebt sich nun ein pechschwarzer Grubenfürst.
Und vor ihm - steht Furgas und mimt den Beschützer.

Dann geht plötzlich alles rasend schnell.
Goin stimmt ein ermutigendes Lied an, Detritor und Ig'nea stürmen mit markerschütterndem Gebrüll vor und zusammen mit Luzija und Elidan erhebe ich mich zum Angriff in die Lüfte. Doch meine Pfeile kratzen das Ungetüm kaum! Den anderen ergeht es wenig besser, und da plötzlich begreife ich, was unserem Paladin widerfahren ist: er wurde bezaubert!
Ich unterbreche meinen nutzlosen Pfeilhagel und spreche einen Schutzzauber über Furgas, der ihn hoffentlich aus seiner Illusion holt. Der Grubenfürst ist ebenfalls nicht untätig und deckt unsere Gefährten mit Schlägen ein.

Endlich wirkt mein Bann, und Furgas erkennt die angebliche Jungfrau in Not als das, was sie ist: der Feind! Nun kann der Zauber des Lords ihn nicht mehr davon abhalten, Dorn aus seinem Klingenhandschuh fahren zu lassen, was dieser wohlweislich getan hatte. Furgas macht auf dem Absatz kehrt und stürtzt sich auf ihn, ich kann Dorn förmlich frohlocken hören. Diese Schläge prallen nicht so harmlos an der dicken, schuppigen Haut ab.
Während ich erneut mit dem Bogen anlege, nutzt Ig'nea die Gelegenheit, pflückt das Kind vom Boden auf und macht sich damit auf und davon. Vergeblich versucht der Fürst, nach ihr zu schnappen, ich bewundere ihre Gewandtheit trotz der massigen Balorgestalt.

Mir kommt diese Ablenkung gerade zu Paß: ich ziele, sammle alle Lichtenergie die ich aufbringen kann und feuere dem Fürsten zwei Pfeile in die Halsgrube. Grelles Licht ergießt sich über sein häßliches Gesicht und blendet ihn für einen Moment, doch das stachelt seinen Zorn nur noch mehr an und er drischt umso heftiger um sich.
Furgas sackt unter einem besonders harten Treffer in die Knie, sofort ist Elidan auf schnellen Flugschuhen bei ihm und teleportiert sich mitsamt dem Schwerverletzten außer Reichweite.
Detritor prescht in die entstandene Lücke und hackt ohne Rücksicht auf Leib und Leben auf das Monstrum ein, an dem sich endlich erste Wunden erkennen lassen.
Ich stecke den Bogen weg, greife zum Schwert und versuche im Vorbeiflug einen Treffer zu landen, doch das sollte ich besser sein lassen - in seiner Rage entgehe ich nur knapp einem Treffer, der beinahe meinen linken Flügel abgetrennt hätte. Goin hat aufgehört zu singen und feuert nun statt dessen Salven aus seiner Harfe. Was dieses Wunderinstrument so alles kann.

Doch all unseren Bemühungen zum Trotz ist die Schlacht aussichtslos. Für jeden Kratzer den der Grubenlord einsteckt, teilt er verheerende Wunden an uns aus. Mein einer magerer Heilspruch ist längst erschöpft. Elidan hat Furgas offenbar in Sicherheit gebracht und entfesselt nun arkane Gewalten aus sicherer Distanz, doch auch er kann das Blatt nicht wenden.

Plötzlich taucht Ig'nea hinter dem Koloss auf, in ihrer normalen Gestalt, ohne das Kind. Sie fixiert den Lord mit stechenden Augen.
Dann geschieht etwas Unglaubliches: von unten herauf beginnt sich der schwarze Körper in ein durchscheinendes, festes Gebilde zu verwandeln! Ein feines, prickelndes Knacken ist dabei zu hören, als ob Eis im Zeitraffer einen See zufrieren würde. Innerhalb kürzester Zeit hat sich die kristalline Umwandlung bis zum Haupt des Teufels vollzogen, und das Monster steht als unbewegliche Diamantstatue vor uns.

„Steht nicht da und glotzt, das hält nicht ewig! Zerstört den Kristall!“, schreit uns Ig'nea an, als wir maulaffenfeil das kleine Wunder begaffen.
Jeder reißt sich aus seiner Lethargie und wirft in die Waagschale, was noch an Kraft verblieben ist. Zum Glück ist die Kristallform viel anfälliger für unsere Attacken als der schuppige Panzer des Grubenlords. Klirrende Klingen, donnernde Schalleruptionen, die unsere Ohren klingeln und Knochen im Leib vibrieren lassen - alles hagelt auf die gläserne Form ein und übersäht sie mit unzähligen feinen Rissen.
Fragmente splittern aus dem Koloss.

Sonja reißt ihr Schwert über den Kopf und läßt die kurze, gedrungene Stahlklinge voller Wucht auf den kristallenen Klauenfuß niedersausen. Die Waffe prallt zurück, die Erschütterung schmettert sie ihr beinahe aus der Hand. Ein Riß entsteht, pflanzt sich in Windeseile knirschend durch die gesamte Struktur, verästelt in tausend weitere Risse.
Unter gewaltigem Getöse explodiert der Kristallteufel vor unseren Augen. Ein Schauer kristalliner Scherben prasselt auf uns herab und bringt meine Rüstung zum Klingen.

Plötzlich bebt die Erde unter uns, fettige schwarze Wolken quellen aus dem Boden und hüllen die Überreste ein. Noch einmal tut es einen lauten Knall, dann sind die Fragmente verschwunden und an ihre Stelle eine Schar übel fluchender Staubmephits getreten.

Die kleinen Biester beschimpfen und verspotten uns wüst, greifen uns sogar an. Doch zu unserem Glück ist das einzig wirklich Mächtige an ihnen ihr übermenschlich großer Wortschatz an Schimpfworten und Beleidigungen. Mit ein paar gezielten Hieben schaffen wir sie uns vom Leib.

Nun, da keine direkte Gefahr mehr droht, sehe ich mich um. Detritor tropft Schweiß und Blut vom halbnackten Oberkörper, aus Furgas goldener Rüstung sickert Blut. Elidan wetzt umher und kümmert sich um die Schwerverletzten, die drei Materier finden ebenfalls wieder zueinander und wirken recht verstört. Ig'nea kehrt zurück, das Kind an der Hand.
Mir fällt ein Stein vom Herzen. Endlich haben wir unser Ziel erreicht und das Kind zurück! Groß ist es geworden, aber es hat nichts von seiner merkwürdigen Aura verloren. Wir sollten es schleunigst in Sicherheit bringen, damit es uns nicht wieder so leicht entwendet wird.

Goin hat die Harfe immernoch in der Hand und zupft scheinbar zufällig ein paar Töne. Er wirkt abwesend. Plötzlich verändert sich die Musik, er singt - und augenblicklich habe ich wieder dasselbe Gefühl wie damals auf der Insel, als ob sich mein Verstand in Fetzen auflöst und mitsamt der Welt um mich herum in einem Strudel des Wahnsinns davongerissen wird.


Erst Stunden später kann ich wieder einen klaren Gedanken fassen. Elidan, der offenbar als einziger dem verwirrenden Effekt von Goins Gesang widerstanden hat, kümmert sich noch immer um uns sabbernde Idioten.
Vermutlich ahnt Goin bereits, dass er uns mehr als nur ein paar Erklärungen schuldig ist. Mehr als einmal bin ich nahe daran, ein paar meiner weniger charmanten Fähigkeiten an ihm auszuprobieren - und ich bin nicht die einzige. Furgas kocht förmlich unter seinem Drachenhelm. Was soll das bloß? Dieses verdammte Lied vom Paradoxon.

„Ich weiß gar nicht was ihr alle habt,“ beschwichtigt der Goldbart mit unschuldigem Grinsen. „Kann ich doch nichts dafür, wenn ihr alle kein Ohr für gute Musik habt. Immerhin hab ich was rausgefunden.“
Also schön, ein wenig neugierig bin ich schon. Und bislang sind keine bleibenden Schäden dieser Musik geblieben; trotzdem sollte er uns demnächst vorher warnen, damit wir uns die Ohren zuhalten können.

„Und was soll das sein?“, fragt Ig'nea scharf. Sie sieht immernoch aus, als ob sie Goin jeden Moment in ein Häufchen Asche verwandeln wollte.
„Ich weiß, wen wir da gerade getötet haben.“
Nun sind alle Augen auf ihn gerichtet.

„Er hat sich zwar ein wenig gesträubt, aber ich konnte ihn dann doch überzeugen.“ meint er harmlos. „Erklärt auch die Staubmephits, da ist jemand wohl ein bißchen ungehalten über diese kleine Unannehmlichkeit.“

Was für eine Unannehmlichkeit? In tausend Scherben gehauen zu werden trifft das wohl kaum. Andererseits, so klärt uns Luzija auf, haben wir den Grubenfürsten mit unserer Tat wohl nur für eine Weile von dieser Ebene verbannt; aber bei weitem nicht endgültig vernichtet.

„Jedenfalls heißt - oder hieß - der gute Mann Mephistopheles.“, schließt Goin.

Ein neuer Feind auf unserer langen Liste. Immerhin einer, dessen Gesicht wir kennen. Doch was hatte einer wie Mephistopheles mit dem Kind vor?
Oder handelte er nur im Auftrag eines noch höher gestellten Teufels?
Was sollten all die seltsamen Rituale, zu denen er es geführt hatte? Und waren sie abgeschlossen?


All diese Fragen warten auf Antworten. Doch hier, in den verfallenden Ruinen von Irkbaz, ist nicht der richtige Ort dafür. Es ist an der Zeit, die Materier wie versprochen auf die Heimreise durch das Portal hier zu schicken und dann weiterzuziehen.



Nach Tamra.
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