Der ewige Kreis
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Wenige Stunden später brechen wir auf gen Tamra. Die verwirrten Materier haben wir, wie versprochen, durch das Portal mit genauen Anweisungen in ihre Heimat entlassen. Vielleicht nehmen sie doch die ein oder andere Weisheit aus ihren Erfahrungen hier mit; dass ihnen noch einmal ein derartiges Abenteuer widerfährt, ist schließlich äußerst unwahrscheinlich.
Ohne sie sind wir jedenfalls deutlich schneller unterwegs. Schon einen halben Tag später langen wir am Ufer des „hellblauen Auges“ an. Wie beim letzten Besuch verschleiern wir unsere Anwesenheit hinter einem Unsichtbarkeitszauber und brausen im Tiefflug über den See Richtung Stadtmauer. Sicherheitshalber kontaktiert Ig'nea Chronos und informiert ihn über unser Kommen; noch einmal beschossen werden muß ja nicht sein.
Von Tamra ist erstaunlicherweise noch immer einiges übrig, was nach den anhaltenden Kämpfen nicht zu erwarten gewesen war. Ein paar mehr Brand- und Rußflecken vielleicht, verätzte Krater und Trümmer.
Doch auf dem Steg vor der Stadt erwartet uns eine ganz andere Überraschung: Draka!!
Wir lassen alle Vorsicht und Vezauberung augenblicklich fallen und begrüßen unsere langvermisste Schwester gebührend. Am liebsten würde ich sie sofort ausfragen, wo sie bloß so lange gesteckt hat ohne sich zu melden, doch in ihrer typisch ruhigen, bestimmten Art meint sie nur, sie habe viel studiert und uns dann lange gesucht.
Selbst das Kind scheint sich an sie zu erinnern und klettert zutraulich auf ihre schuppige Schulter. Ein bißchen stolz sind wir in dem Moment schon, dass wir es geschafft haben, den Kleinen zurückzuholen. Draka hätte uns sonst die Ohren langgezogen.
Und als ob sie hier vollkommen vertraut wäre, führt uns Draka in das Hauptquartier der Drachkin. Durch den abfallenden Gang, die Falltür, die leuchtenden Bodenfliesen, vorbei an vielen bekutteten Drachen, bis hin zum Plateau im Herzen der Maschine.
Eine auffällige Veränderung gibt es jedoch: von der Decke baumeln, säuberlich in Ketten gelegt, zwei Gestalten. Jarvis!, denke ich sofort, doch keine der beiden traurigen Figuren hat auch nur annähernd Ähnlichkeit mit meinem herrlichen Elfen. Der eine ist ein zu kurz geratener Zwerg (muß ein Halbling sein), der andere ein Hühne in schwerer Rüstung. Dem martialischen Aussehen nach gehört er dem Harmonium an, einem der Bünde Sigils, wie es auch die Sinnsaten sind. Sie sehen sich als Hüter der Gesetze, und tatsächlich bestätigt Ig'neas prüfender Blick diese Annahme: der Halbling ist ein recht bekannter Langfinger namens Flinkefuß, der in Sigil in den falschen Taschen stibitzt und sich eine Menge Ärger eingehandelt hatte. Das Harmonium ist ihm deswegen schon lange auf den Fersen. Nun haben sie ihn offenbar geschnappt, doch wohl nicht ganz so, wie sie sich das vorgestellt hatten.
Ein Drache gesellt sich zu uns, und erst als er spricht, erkennen wir an seiner Stimme, wer hier vor uns steht: Aldred! Es ist schön, ein bekanntest Gesicht zu sehen. Naja, auch wenn das Gesicht selbst neu ist.
Als er unsere neugierigen Blicke bemerkt, erklärt er, die beiden Gefangenen seien Spione, die man tags zuvor in den Ruinen hatte herumschleichen sehen. Ig'nea kann diesen Irrtum glücklicherweise aufklären, doch nun haben wir einen dankbaren Offizier des Harmoniums und einen irgendwie eingeschüchterten Halbling am Rockzipfel hängen - denn hierbleiben, das macht Aldred sofort unmißverständlich klar, können sie auf keinen Fall. Man rüstet sich bereits für den letzten Marsch gegen die Insel, da ist für Gäste kein Platz.
Marsch auf die Insel? Ich horche auf. Das klingt sehr endgültig und schwer nach Gewalt. Furgas' Augen leuchten auch schon wieder bedenklich.
„Lieber zerstören wir die Insel, als dass sie den Teufeln in die Hände fällt.“ meint Aldred im Brustton der Überzeugung. „Sobald Chronos mit den anderen zurück ist, brechen wir auf. Wir werden sie zurückschlagen, ein für allemal. Wenn sogar schon Grubenfürsten wie Mephistoteles hier ungeniert herumlaufen, ist es an der Zeit, sie endlich in die Schranken zu weisen. Wußtet ihr denn nicht, dass er einer der Dunklen Acht ist? Er herrscht über Mephista.“
Nun ist es an uns, ziemlich kleinlaut dreinzuschauen. Einer der Dunklen Acht. Das verheißt nichts Gutes. „Da habt ihr euch ja gleich mit den großen Jungs angelegt“, lacht Aldred. „Ein Grund mehr, sie in die Grube zurückzutreten, aus der sie gekommen sind.“
Die ganze Zeit nagt etwas an meinem Geist, eine Erinnerung, doch es dauert eine ganze Weile bis sich unter all den wirren Ereignissen der jüngeren Vergangenheit ein klares Bild herauskristallisiert: Wir sitzen in Ychts vezaubertem Märchengarten. Essen von seinem Brot... und reden über Abenteurerkram!
„Das geht nicht!“, platzt es aus mir heraus. „Ycht hat gesagt, dass er die Insel schon sechs Mal hat untergehen sehen. Sie kommt also immerwieder, es gibt keine endgültige Lösung, der Kreislauf beginnt von vorn.“
Alle schweigen. Erinnern sie sich denn nicht?
Aldred mustert mich lange. Dann bittet er mich, zu wiederholen was ich gerade gesagt habe. Höre ich Zweifel in seiner Stimme? Ycht scheint er zumindest zu kennen.
„Wir müssen seinen Rat einholen.“, entscheidet Aldred schließlich. „Sobald die anderen zurück sind.“
Die nächsten zwei Tage sind von einer seltsam bedrückten Ruhe erfüllt. Fast bereue ich schon, ihnen die Worte Ychts gesagt zu haben. Doch wäre es besser gewesen, sie voller Aktionismus in einen Kampf rennen und darin sterben zu lassen, der nicht das hält, was sie sich von ihm versprechen?
Luzija kümmert dergleichen wenig. Sie hat sich Flinkefuß buchstäblich unter den Nagel gerissen und ... ich will es gar nicht genauer wissen. Nach ein wenig herumgetanze erwähnt sie zumindest, dass der Zodar mit dem Schwert nun in Minauros sei; einer weiteren, unangenehmen Unterebene Baators. Er steigt also immer tiefer hinab.
In den wenigen Stunden, in denen wir uns nicht an den Scharmützeln in der Stadt beteiligen (nur um in Form zu bleiben, wie Furgas sagt) oder ich meiner ganz persönlichen Nemesis, die mich auch hier wiedergefunden hat, nachjage, grübele ich über das Kind nach. Den Schlüssel zur Insel. Wäre es sicherer, ihn in unser Dorf zu bringen? Oder nach Ryleh? Doch selbst wenn, ich wüßte ja nicht einmal wie ich das bewerkstelligen sollte. Der Kleine ist immernoch unergründlich. Einmal hätte er beinahe wie ein unbedarftes Kind Dorn angefaßt. Einer der Drachen konnte ihm gerade noch die Hand wegschlagen, wer weiß was sonst passiert wäre.
Endlich trifft Chronos ein. Seine massige, güldene Gestalt ist auch nicht zu übersehen. Die Drachkin berichten sich in ihrer eigenartigen, gutturalen Sprache die neuesten Ereignisse und kurze Zeit später brechen wir in Begleitung von Aldred, Chronos und dem dürren Gevatter auf. Die drei gehen den konventionellen Weg und schleichen durch die Stadt, doch Luzija bietet uns mittels Teleport eine Abkürzung.
Im Nachhinein kommt es mir noch immer ein wenig verdächtig vor, dass nur Aldred und Chronos die Stadt lebend verlassen haben. Goin, der nicht mit uns teleportiert war, meinte später nur, Gevatter habe beschlossen irgendeine „nächste Stufe“ zu erreichen und sei tot. Ich weiß bis heute nicht, ob ich ihm das glauben soll oder nicht.
Wir treffen uns an der Grenze zu Ychts Reich wieder und wandern eine Woche vorsichtig durch das üppig grünende Feenreich des alten Drachen, bis wir an seiner Hütte anlangen. Es ist merkwürdig, plötzlich einen strahlend blauen Himmel zu sehen, wo uns vorher das immerwährend fahlgelbe Leuchten der Außenländer überspannte. Elidan ist so freundlich, die stille Reisegruppe mit herbeigezauberten Leckereien zu versorgen; einfach etwas aus Ychts reichem Naturgarten zu pflücken käme uns nicht in den Sinn.
Im Vergleich zu unserem letzten Besuch erscheint Ycht nicht sehr begeistet, als er uns erblickt. Er drückt uns ein paar Holzbohlen mit Brotlaiben darauf in die Hand (die Drachenversion einer Vesper) und besteht darauf, mit den Drachen aus Kront allein zu reden. Ein wenig enttäuscht bin ich schon, es hätte mich doch sehr interessiert, was Ycht ihnen zu der Insel zu erzählen hat. Uns gegenüber war er ja sehr verschlossen und hatte alles als „Abenteurerkram“ abgetan und weiter nichts gesagt. Nicht einmal das leckere Brot täuscht über diesen Affront hinweg, und das obwohl der Sinnsat in mir jubelt, so gut schmeckt es nach Anis und fremdartigen Gewürzen.
Ig'nea scheint nicht hungrig zu sein, jedenfalls hat sie sich in gewohnter Manier irgendwo abseits ins Gras gesetzt, an den Stamm einer mächtigen Eiche gelehnt, und ist mit ihren Gedanken woanders. Luzija lauscht anfangs an der Tür, doch wenn die nur halb so dick ist wie unsere Essenbrettchen, hat sie keine Chance.
Wenig später tritt Ycht aus seinem Haus, allein. Ernst redet er auf uns ein, dass die Drachkin ob der neuen Erkenntnisse wohl den Kampf um Tamra aufgeben würden, da ein finaler Sieg unerreichbar scheint. Und dass er dies im Grunde sehr bedauert, denn für eine Überzeugung zu kämpfen könne durchaus sinnvoll sein, auch wenn der gewünschte Erfolg dabei ausbleiben kann. Er selbst kann und wird sich in die Belange um die Insel nicht einmischen; dafür steht auch für ihn zu viel auf dem Spiel, denn er ist nicht nur ein Drache, sondern auch der Schöpfer dieser Taschendimension, für die er nun verantwortlich ist.
Würde er sich einmischen, so würden sich „die anderen“ ebenfalls zusammentun und ihm das Leben hier zur Hölle machen. Deshalb gibt er weder Informationen noch greift er in solchen Kämpfen ein, sondern bleibt hier in seinem Reich.
Das einzige, was er bereit ist zu verraten, ist, dass es sich bei der Insel um einen der vielen Schauplätze des Blutkrieges handelt, der auf den Unteren Ebenen tobt und seine Auswüchse bis hier in die Außenländer getrieben hat. Auch hier werden vereinzelte Gebiete umkämpft, erobert, zurückerobert, vernichtet, wiedergeboren. Dunkel erinnere ich mich an seine Worte damals über die Triade, die drei Städte, die das Gebiet stabilisiert hatten: Tamra, Ipkunis und Man's End. Der Krieg müsse immer weiter gehen, dürfe niemals final enden, und die Götter seien im Grunde nur Zuschauer in diesem Spektakel.
Vielleicht ist es gerade an der Zeit, dass das Gefüge wieder kippt und die Insel in neue Hände fällt - nur um irgendwann zurückerobert und erneut stabilisiert zu werden, im ewigen Kreislauf des Blutkrieges.
Mit diesen Worten läßt Ycht uns zurück und zieht sich wieder in seine Hütte zurück. Ig'nea erwacht aus ihrer Trance, läßt sich die Neuigkeiten berichten und erzählt dann, was sie gesehen hat:
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Brenell war vor etwa zehn oder zwölf Jahren hier, kurz nach dem Besuch einiger Drachkin.
Dann wir bei unserem ersten Besuch, weitere Drachen, eine ganze Gruppe die eine Art Rat abgehalten hat.
Brenell erneut, er schlägt nach Ycht jedoch scheint er dies ohne rechten Willen zu tun, beinahe spielerisch. Wieder eine seiner haarspalterischen Täuschungen, wenn er etwas im Namen seiner Herren ausführen soll, was er nicht will?
Zuletzt ein Flammenwesen, dass einige Bäume und Sträucher abfackelt.
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Zumindest hat Ycht wohl nicht gelogen: er ist zwar sehr mächtig, aber nicht allmächtig. Wenn er sich zu weit aus dem Fenster lehnt, hat auch er mit den Konsequenzen zu leben. Und ich kann ihm gut nachempfinden wie es ist etwas zu verlieren, an dem man so sehr hängt wie Ycht an seinem Garten.
Erneut stellen wir uns nun die Frage: was tun?
Wenn die Drachen den Kampf um Tamra aufgeben, ist das ein großer Sieg für die Neun Höllen und das Ende der Triade. Doch da sind ja immernoch unsere chaotischen Orkuntertanen im ehemaligen Ipkunis, und Man's End. Hoffen wir, dass zumindest die gerechte Lady Eladrin die Stellung noch eine Weile halten kann. Vielleicht ist ein Duett ja immernoch stark genug? Doch mein Wissen über die Funktion der Ebenen reicht nicht aus, um in solchen Maßstäben Vorhersagen zu treffen.
Ig'nea macht einen ungewöhnlichen Vorschlag: wir sollten versuchen, noch einmal Kontakt mit Brenell aufzunehmen, allerdings an einem Ort, an dem wir vor unerwünschten Lauschern geschützt sind und er offen sein kann - wenn er will.
Verdutzt schauen wir unseren hitzigen Genasi an. Wo will sie so einen Ort finden? „Träume sind Schäume.“, grinst sie, und erläutert uns das nächste Reiseziel:
Die Traumwelt!
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