Juvanis Characterstory
"He da, aufwachen du Schlafmütze! Wer da ist? Ich bin's, Juvanis! Na, was unternehmen wir heute? Wollen wir nach Kieseln buddeln, Stöckchen suchen oder den alten Norre ein wenig foppen? Ach kommt schon, alles nur nicht wieder Flugstunden, die hängen mir zum Hals raus. Willst du jetzt wohl aufstehen? Na warte..."
Juvanis öffnet die Augen.
Erinnerungen spiegeln sich in ihren sanften, goldenen Augen wider. Erinnerungen an das, was bis vor einem halben Jahr noch ihr Leben gewesen ist. Damals hatte sie es furchtbar langweilig gefunden, das Dorf, die Eintönigkeit ihres Tagesablaufs, keine Aussicht auf Veränderung. Natürlich, es hatte auch ein paar sehr schöne Momente gegeben...
Sie erinnert sich entfernt an den Tag, an dem ihre Mutter eine quirlige kleine Juvanis zu Kolmir brachte. Kolmir mit dem bunt schillernden Gefieder am ganzen Leib. Er sollte ihr gefälligst beibringen, etwas Nützliches mit ihren Flügeln anzufangen, anstatt nur Unfug damit zu treiben und ständig Sand ins Haus zu fächeln.
Sie erinnert sich an ihre ersten, unbeholfenen Flugversuche, wie sie ständig Bauchlandungen hinlegte, bis ihre bronzefarbene Haut und das silbrige Haar ganz grau, staubig und zerzaust waren. Und dann der Tag, an dem sie endlich das Fliegen gemeistert hatte und ihre weißen Flügel sie fortan sicher durch die Lüfte trugen.
Sie erinnert sich an ihre vielen Abenteuerzüge mit Furgas, den sie seit Kindesbeinen kennt und dessen hübsches, argloses Gesicht nur diejenigen über seine schelmischen Natur hinwegtäuschen kann, die ihn noch nicht richtig kennen. Und Juvanis hatte 17 Jahre Zeit, ihn sehr gut kennen zu lernen!
Sie erinnert sich auch an die vielen Übungen. Wie sie hinausziehen und lernen sollte, wie man seine eigenen Spuren in diesem tückischen Grasland wiederfindet, man muss nur schnell genug sein. Wie man Hasen erfolgreich jagt, und wie man sie schmackhaft zubereitet. Obwohl der Hasenbraten ihrer Mutter für sie immer unerreicht blieb.
Sie seufzt, als sie wieder an ihre Mutter denkt. Siobhan war eine wunderbare, herzensgute Frau. Doch da war auch immer eine tiefe, versteckte Trauer in ihren blauen Augen gewesen. Sie hatte ihr nie gesagt, warum. Ebenso wenig, wie sie jemals über ihren Vater gesprochen hatte. Ihren richtigen Vater. Die Leute im Dorf erzählten, er habe ihre Mutter und die Gemeinschaft verlassen, noch bevor Juvanis geboren wurde. Sie sähe ihm aber sehr ähnlich. Damals hatte sie sich dagegen verwehrt, irgendetwas mit diesem Schuft gemein zu haben. Torkain war ihr Papa, der war nett zu Siobhan und seit vielen Jahren lebten sie zusammen wie die anderen Familien auch.
Und nun?
Nun ist sie auch fortgegangen.
Fort aus ihrem Dorf, ihrem alten Leben, fort von ihrer Mutter.
Genau wie er.
Vielleicht ist sie ihm doch ähnlicher, als sie bislang zugeben wollte. Ihr erscheint es jetzt, als hätte Siobhan es beim Abschied gewusst. Dass ihre Tochter nun auch fortgeht - und nie mehr zurück kommt.
Draußen hört Juvanis Schritte, begleitet von einem vertrauten, metallischen Rasseln. Noch einmal stößt sie einen kleinen Seufzer aus, schüttelt die Gedanken an die Vergangenheit ab und erhebt sich von ihrem Lager. Auch die anderen machen sich bereit: Die beiden Wassersucher, Lucia, Draka (die in dem niedrigen Raum nicht aufrecht stehen können). Auch Furgas ist hier. Er ist in letzter Zeit besonders aufmerksam Juvanis gegenüber. Bestimmt vermisst auch er sein Zuhause, aber Männer können das ja nicht zugeben.
Die Tür öffnet sich und ein Zwerg erscheint. Er bedeutet uns, dass es an der Zeit ist. Zeit für den täglichen Unterricht.
Juvanis scheint es als habe sie in den vergangenen drei Wochen mehr gelernt, als in den 17 Jahren zuvor zusammen. Sie hat von Dingen gehört, die ihr so wunderlich erschienen, dass sie es zu anfangs kaum glauben wollte. Den anderen ging es genauso. Doch es war ihnen hier ja selbst schon so einiges widerfahren, das sie mit vorschnellen Urteilen über Möglich oder Unmöglich vorsichtig werden ließ.
Man hatte sie viel über die "Ebenen" gelehrt. Über Welten und ihre Bewohner. Und damit auch unweigerlich über ihre eigene mögliche Abstammung. Ihren Vater. Über Mächte, Götter und viele, sehr viele Zwergenhelden. Sie hatte verstehen gelernt, warum die Leute in ihrem Dorf so unterschiedlich aussahen, warum sie gewissen Dinge tun konnten und andere nicht.
Aber Juvanis hatte auch für sie schlimme Dinge gelernt: über Kriege, Feindschaften und Hass zwischen Völkern, ja ganzen Ebenen. Ihr Verstand wusste jetzt, warum die Leute auf dem Markt auf einige von ihnen so abfällig reagierten - aber ihr Herz konnte das nicht verstehen. Sie kannte doch Lucia, Draka und all die anderen in ihrem Dorf. Dort hasste man sich doch auch nicht! Man lebte zusammen, miteinander, friedlich. Zugegeben, manchmal waren sie ein bisschen wild, oder machten unüberlegte Dinge mit denen Juvanis gar nicht einverstanden war. Aber sie deshalb aufgeben?
Der heutige Schultag soll einer ihrer letzten sein. Obwohl der Lehrer durchaus interessanten Unterricht zu halten versteht, ist Juvanis nicht bei der Sache. Sie grübelt ständig darüber nach, welche Auswirkungen ihr neues Wissen auf diese kleine, bunte, widersprüchliche Reisegruppe haben wird, ob und wie es nun weitergehen soll.
Da hört sie mit halbem Ohr, wie der Lehrer (es geht wohl gerade um irgendwelche Gemüsepygmies aus den Beastlands) sagt: ".. doch wenn man einen von ihnen angreift, lassen sie alles stehen und liegen und stellen sich geschlossen dem Feind, Karotte, Fenchel und Sellerie."
In diesem Moment wird es Juvanis klar: Es ist ihr völlig egal, was diese Bücher hier sagen. Es ist ihr auch egal, ob alle Welten sie für verrückt erklären oder anstarren. Sollen die Ebenen doch in ihrem dummen Krieg versinken: diese Gruppe wird Bestand haben und sich widersetzen, für die Kinder ihres Dorfes gelten andere Regeln! Man mag nicht immer einer Meinung sein, aber zumindest respektiert man einander.
Und da erinnert sich Juvanis an einen Ort, von dem Draka einmal während ihrer Reise durch die Wüste gesprochen hatte... zu dem sie hatte gehen wollen (denn bei aller Freundschaft, es wird Juvanis unwohl bei dem Gedanken, Draka oder Lucia zuliebe in die Heimat derer Ahnen zu reisen).
Wenn ihr bloß noch einfallen würde, wie der Name dieses Ortes war.....
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